Experiment MIKROVIB


Bei willkürlicher Muskelentspannung (Liegen, entspanntes Sitzen) treten am Muskel-Skelettsystem kleine Schwingungen mit einer typischen Frequenz von 8 bis 12 Hz auf. Diese so genannte Mikrovibration wird durch restliche autonome Muskelspannungen im Körper infolge der Schwerkraft hervorgerufen. In Schwerelosigkeit, bei also bei kompletter Entspannung (Kosmonaut im frei schwebenden Zustand) tritt diese Mikrovibration nicht mehr auf. Dies konnte im Rahmen der AUSTROMIR-Mission erstmals klar gezeigt werden. Die Mikrovibration wurde übrigens vom Österreicher Hubert Rohracher in den 40-Jahren des letzen Jahrhunderts eher zufällig entdeckt. Die Klärung des Entstehungsmechanismus der Mikrovibration dann war auch das Hauptziel im Projekt AUSTROMIR, daher die Namensgebung „Experiment MIKROVIB“

Aus den Forschungsergebnissen von AUSTROMIR ergaben sich weiters konkrete Hinweise dass die Mikrovibration durch den Herzschlag angeregt wird. Dazu wurde ein mathematisches Modell des angespannten Muskels anlog der Spannung einer Saite in einem Musikinstrument entwickelt. Wird dabei die leicht angespannte Muskelfaser durch den Herzimpuls „angeschlagen“ entstehen in der Folge 8 bis 12 Hz Resonanzschwingungen die an der Körperoberfläche dann als Mikrovibration beobachtet werden kann. In Schwerelosigkeit – also bei komplett fehlender Muskelspannung – treten dann auch modelgemäß keine Schwingungen mehr auf. Die Absicherung dieser „Herzschlaghypothese“ erforderte zusätzliche Untersuchungen im Rahmen des Projekts RLF.

Bei Halteaufgaben, treten zusätzlich zur Mikrovibration noch kleine Zitterbewegungen (Krafttremor, physiologischer Tremor) an den Extremitäten auf. Beispiele etwa sind das Zittern beim Halten einer Kamera oder beim Durchführen eines Fadens durch ein Nadelöhr, wo bei es in Stresssituationen hier zu einer Verstärkung kommen kann. Der Ursprung dieses Zitterns ist weitaus komplexer und eher auf Ebene des Nerven- und Muskelsystems zu erklären. Die Charakteristik dieser Zitterbewegung (Amplitude, Frequenzanteile) hängt zudem von einer Vielzahl äußerer und innerer Faktoren ab. Zu den äußeren Faktoren etwa zählen der Typ der Bewegungsaufgabe und die Art der Belastung wobei hier auch die Schwerkraft eine Rolle spielt. Zu den inneren Faktoren gehören Veränderungen im Nerven- und Muskelsystem wobei hier auch Stress und Medikamente einen Einfluss haben können.

Forschungsziel

Im Rahmen des RLF-Projekts standen zwei größere Fragekomplexe am Programm. Zunächst mussten die Ergebnisse von AUSTROMIR sichergestellt werden. Dazu mussten die russischen Kosmonauten die Experimente zunächst wiederholen, wobei die Experimentprotokolle teilweise erweitert und verfeinert wurden. Bei AUSTROMIR hatten wir uns ja zur Aufgabe gestellt, den Einfluss der autonomen Muskelspannung auf verschiedene Mikrobewegungsphänomene (Mikrovibration, Haltetremor) zu untersuchen, hier ging es rein um den Schwerelosigkeitseffekt bzw. um kurzfristige Effekte. Im RLF-Projekt geht es jetzt zusätzlich auch um langfristige Effekte wie sie etwa bei einem Flug zum Mars zu erwarten wären. Infolge des anhaltenden Wegfalls der Schwerkraft kommt es dabei zu stärkeren Veränderungen im Nerven- und Muskelsystem. Diese Veränderungen festzuhalten erforderte schließlich eine Erweiterung der Experimentmethodik, insbesondere was die Untersuchung der Zitterbewegungen betrifft.

Was den ersten Fragenkomplex betrifft war also festzustellen, ob die Existenz der Mikrovibration tatsächlich von der Muskelanspannung abhängt so wie es die obige modellhafte Beschreibung nahe legt. Um dies zu überprüfen wurde die Mikrovibration in Schwerelosigkeit nicht nur bei Entspannung sondern auch bei verschiedenen Anspannungen und Körperstellungen im frei schwebenden Zustand aufgezeichnet. Gemäß dem Modell müsste in den Phasen der Anspannung die Mikrovibration dann auch in Schwerelosigkeit wieder auftreten. Diese Untersuchung erfordert dass ein zweiter Kosmonaut die Apparatur KYMO bedient um die dazugehörenden Messsignale aufzuzeichnen. Mittels Frequenzanalyse der aufgezeichneten Signale könnte diese Fragestellung dann beantwortet werden.

Der zweite Fragenkomplex betrifft die langfristigen Veränderungen im Nerven- und Muskelsystem. Während Langzeitflügen etwa kommt es zu einem starken Ab- und Umbau in der Streckmuskulatur, insbesondere in den Beinen. Der Abbau kann durch ein tägliches Krafttraining zwar in Grenzen gehalten werden, da aber die Trainingsbelastung mit der natürlichen Schwerkraftbelastung nicht vergleichbar ist nimmt der Anteil der nicht ermüdbaren langsamen Muskelfasern trotzdem stark ab. Ein wichtiges Forschungsziel daher war es eine einfache nichtinvasive Methode zur Beurteilung dieser Veränderungen im Muskel zu entwickeln. Die Methode basiert auf der Analyse der auftretenden unwillkürlichen Kraftschwankungen während einer Kontraktion, dem so genannten Krafttremor. Dazu wurde für das RLF-Projekt ein neuartiges Fußdynamometer entwickelt (siehe KYMO-2) das gleichzeitig auch die Aufzeichnung der elektrischen Signale am Muskel ermöglicht.

Die Änderungen im Nervensystem betreffen insbesondere die Bewegungssteuerung. Aufgrund fehlender Körperlagesignale vom Gleichgewichtsorgan und auf Grund veränderter Signale von der Körperperipherie muss das Nervensystem die Bewegungskoordination und die Kraftdosierung and die neue „Kraftumwelt“ anpassen. Diese Anpassung an die Schwerelosigkeit funktioniert größtenteils automatisch über so genannte Reflexe. Teilweise werden die Reflexe dabei auch funktionslos, etwa die Reflexe zur Kompensation der Schwerkraft in der Streckmuskulatur. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer kommt es daher zu Veränderungen in den Reflexbahnen und ihren Steuerzentren was sich insbesondere nach dem Wiedereintritt stark bemerkbar macht. Eine Möglichkeit diese Veränderungen zu beurteilen besteht in der Analyse der Zitterbewegungen wie die beim Halten gegen die Schwerkraft oder beim Ziehen eines elastischen Seils auftreten. Für das RLF-Projekt wurde dazu eigens ein spezieller Expander hergestellt.

Funktionsweise, Meßprinzip

Die Absicherung der Ergebnisse von AUSTROMIR und die weitere Erforschung der Mikrovibration erfolgte mittels der bereits an Bord vorhandenen Apparatur KYMO. Zur Erarbeitung der neuen Forschungsziele kam dann später die erweiterte Apparatur KYMO-2 zum Einsatz. Bei der vorhandenen Apparatur wurde zunächst ein Softwareupdate durchgeführt (über den DATAMIR Bordrechner). Dies wurde nötig um die Mikrovibration auch bei den verschiedenen Anspannungen und Körperstellungen am frei schwebenden Kosmonauten aufzuzeichnen. Die Aufzeichnungen wurden wieder am rechten Unterarm mittels zweier empfindlicher Beschleunigungssensoren am Ellbogen und am Armgelenk durchgeführt. Um den Einfluss der Herztätigkeit zu studieren wurde ebenfalls wieder das EKG mitregistriert. Auch die anderen Experimentteile von AUSTROMIR (Handkraftmessung, Präzision der Kraftnachführung) wurden im Projekt RLF wiederholt. Zwecks Datensicherung wurden die registrierten Messdaten schließlich nach jedem Experimentdurchlauf auf den Bordrechner DATAMIR übertragen.

Zur Untersuchung der Veränderungen am Muskelsystem kam das Fußdynamometer von KYMO-2 zu Einsatz. In Verbindung mit der Bildschirmanzeige kann durch Druck auf das Fußpedal ein bestimmtes Kraftniveau eingestellt werden. Es wurden wieder statische (Fußkraft konstant halten) und dynamische Tests (Kraftnachführung mittels Displaymarker) durchgeführt, ähnlich wie früher bei der Handkraft. Zur Bestimmung der Leistungsfähigkeit der Wadenmuskulatur wurde auch die Maximalkraft registriert. Die Registrierung der Kontraktionskraft erfolgt durch eine Messzelle am Pedal. Mittels eines elektronischen Filters wird die Kraftschwankung dann aus dem Kraftsignal gewonnnen. Diese Kraftschwankung wird „hochverstärkt“ und dann mit einem eigenen Messkanal registriert. Weiters werden die elektrischen Signale der drei wichtigsten Wadenmuskeln mitregistriert. Diese Signale können zur Beurteilung der Muskelermüdung herangezogen werden.

Die Untersuchungen zu den Veränderungen der Haltekontrolle mittels Tremorsignale erfolgte durch Heben der Arme und durch ziehen des Armexpanders. Der Tremor beim Heben der Arme wurde wieder mittels der Beschleunigungssensoren an den Armgelenken aufgezeichnet. Im Armexpander wurde die Zugkraft gemessen, dadurch konnte auch das Kontraktionsniveau zur Anzeige gebracht werden. Ebenfalls wurde hier die Kraftschwankung mittels eines elektronischen Filters aus dem Kraftsignal gewonnnen. Beide Signale wurden zusätzlich zu Beschleunigungssignalen aufgezeichnet so dass hier mehrere Signale zur Beurteilung des Tremors vorhanden waren. Die verschiedenen mechanischen Signale die vom Muskel-Skelettsystem registriert werden können, werden allgemein auch als „Mechanomyogramm“ (MMG) bezeichnet.

Mitverwendete Apparaturen der österreichischen Nutzlast

DATAMIR, KYMO, KYMO-2

Ergebnisse

Zu allen Experimentteilen gab es mehrere Untersuchungen vor, im und nach dem Raumflug, so dass hier Vergleiche angestellt werden konnten. Die Qualität der Signale war in den meisten Fällen gut bis sehr gut so dass diese der Analyse zugeführt und somit aussagekräftige Ergebnisse erzielt werden konnten. Die Ergebnisse zur Mikrovibration stimmen weitgehend mit den Modellvorstellungen überein, so dass die „Herzschlaghypothese“ als Entstehungsursache bestätigt werden konnte. Dies zeigte sich etwa darin, dass während der Anspannungen im schwerelosen Zustand bei allen untersuchten Kosmonauten die Mikrovibration wieder auftrat. Ohne Anspannung war zwar der Herzschlag im Signal erkennbar, es kam nicht zu den typischen Schwingungsmustern. Die Ergebnisse aus diesem Experimentteil können zur Beurteilung von Muskelverspannungen herangezogen werden. Viele Menschen leiden an erhöhten Muskelspannungen die Ursache von Schmerzen sein können oder auch Veränderungen am Bewegungsapparat hervorrufen können.

Die Ergebnisse die mittels des Fußdynamometers im Raumflug erzielt wurden zeigten ein komplexes Bild. Erwartungsgemäß nahm die Maximalkraft gegenüber den Referenzwerten (vor dem Raumflug) innerhalb einiger Wochen auf ein Niveau von etwa 63 % ab. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer, bis hin zum Ende des Raumflugs, erfolgte dann aber keine weitere Reduktion. Hier dürfte das Training welches die Kosmonauten absolvierten mussten, eine Rolle gespielt haben. Auch zwei Wochen nach dem Raumflug wurde erst wieder 82% des Vorflugniveaus erreicht, was zeigt dass die Rückanpassung hier relativ langsam erfolgt. Der relative Anteil des Kraftschwankungssignals (Krafttremor, etwa 1% von der gemessenen Kontraktionskraft) nahm mit der Flugdauer zu. Dies zeigt auf einem Umbau in Richtung schnellzuckender (glykolytischer) Fasern in der Beinmuskulatur hin. Im Experimentteil Steuerleistung (Kraftnachführung nach Displayvorgaben) hingegen ergaben sich kaum Effekte infolge der Schwerelosigkeit. Hier war die Streuung allerdings relativ hoch, weshalb diese Testergebnisse weniger aussagekräftig sind. Nach den Raumflügen erwies sich das Fußdynamometer in der klinischen Praxis noch sehr hilfreich. In Zusammenhang mit der funktionellen Elektrostimulation wird es noch heute zur Beurteilung der kontraktilen Eigenschaften der Wadenmuskulatur eingesetzt.

Die erzielten Ergebnisse zum Haltetremor hingegen zeigten wieder ein recht klares Bild. Bezogen auf die Referenzmessungen vor dem Raumflug (Normalwerte) bewegt man sich in Schwerelosigkeit fast „zitterfrei“ (starke Abnahme der Tremoramplitude). Die Ursache zu diesem Effekt ist im reduzierten Kraftaufwand für Haltebewegungen zu suchen. Bei der Expanderaufgabe hingegen, wo das Kraftniveau immer gleich war, zeigte sich dieser Effekt auch kaum. Nach den Langzeitraumflügen jedoch ist das „Zittern“ bei beiden Testaufgaben (Arm heben, Expander ziehen) gegenüber den Normalwerten stark erhöht. Die erhöhte Tremoramplitude bildete sich erst nach gut zwei Wochen wieder auf die Normalwerte zurück. Die Ursache für diesen Nachflugeffekt ist in den oben skizzierten Anpassungsvorgängen im Nervensystem zu suchen (Verstellung der „Reflexkreise“). Auch auf der Erde treten solche Effekte auf, etwa auch nach längerer Bettlägrigkeit.

Technische Daten

Die Apparatur MIKROVIB bestand aus folgenden Einheiten

Elektrischer Prinzipschaltplan des Projektes MIKROVIB. Grafik: BMBWK, Wien
Apparatur KYMO mit Gerät KYMO (links) und Sensorweste KYMO (rechts). Foto: Univ.-Prof. Dr. Maximilian Moser, Graz
Aluminiumcontainer mit Schaumstoffauskleidung
  • Gerät KYMO (entwickelt und verwendet im Rahmen des Projektes AUSTROMIR-91 und in den Phasen RLF-1 und RLF-2
  • Kabel KYM1 (Spannungsversorgung)
  • Kabel KYM2 (Verbindung KYMO – DATAMIR)
  • Sensorweste mit
    Vibrostimulator
    Akzelerometer (2 Stück)
    Pulssensoren (3 Stück)
    EKG – Kabel
    Vorverstärkereinheit
  • Handergometer
  • Zubehörsets für Experiment MIKROVIB (2 Stück)
    Kleberinge (3 Stück), Klebeplättchen (6 Stück)
    Reinigungstücher (2 Stück), EKG – Elektroden (3 Stück)
  • Zubehörsets für Experiment PULSTRANS (2 Stück)
    Kleberinge (3 Stück), Klebeplättchen (6 Stück)
    Reinigungstücher (2 Stück), EKG – Elektroden (3 Stück)
  • Zubehörsets für Experiment SCHLAF (2 Stück)
    Kleberinge (3 Stück), Klebeplättchen (6 Stück)
    Reinigungstücher (2 Stück), EKG – Elektroden (3 Stück)
  • Befestigungsvorrichtungen für Pulssensoren (3 Stück)
  • Klebestreifen zur Befestigung von Vibrostimulator
    und Akzelerometer auf der Haut der Versuchsperson
  • Schablone zur standardisierten Befestigung von
    Vibrostimulator und Akzelerometer auf der Haut der Versuchsperson
  • Reservesicherungen
Masse: max. 6,2 kg
Abmessungen: 350 mm x 350 mm x 140 mm
Leistungsaufnahme: max. 35 W
  • Gerät KYMO-2 (verwendet in der Phase RLF-3)
  • (1) Mikroprozessoreinheit (Experimentführung, Datenaufzeichnung)
  • (2) Meßgürtel für Körpersignale (Akzelerometer, EKG, Atmung)
  • (3) Puls- und Ballistocardiografie-Sensorweste
  • (4) Kraftmessung: Handdynamometer
  • (5) Kraftmessung: Fußdynamometer mit EMG-System
  • (6) Halsspange für Karotispuls Drucksensor
  • (7) Kraftmessung: Expander
  • (8) Atemdruckaufnehmer und Mundstücke
  • (9) Kabel (Netzversorgung, Bordrechner)
  • (X) Transportbehälter
Gerät KYMO-2 mit Transportbehälter und komplettem Zubehör. Foto: Univ.-Prof. Dr. Dipl.-Ing. Eugen Gallasch, Graz
  • Meßgürtel für Körpersignale
  • (1) Stoffmantel aus Baumwolle (dehnbar um ca. 25 cm, Klettverschluß)
  • (2) drei-achsige-Akzelerometer
  • (3) Fingerpulssensor
  • (4) Elektroden für EKG und Impedanzplethysmografie
  • (5) Analogmodul zur Aufbereitung aller Signale
  • (6) Verbindungskabel mit Stecker zum Rechner
  • (7) Zugentlastung
  • (8) Fixation für Bewegungsmessung im Schlaf
Meßgürtel für Körpersignale. Foto: Univ.-Prof. Dr. Dipl.-Ing. Eugen Gallasch, Graz
Experimentatoren

Univ.-Prof. Dr. Thomas Kenner (Institutsvorstand)
Univ.-Prof. Dr. Dipl.-Ing. Eugen Gallasch (Projektverantwortlicher)
Dipl.-Ing. Dr. Dietmar Rafolt
alle: Physiologisches Institut der Universität Graz

A. Konev
Prof. Dr. Inessa Benediktina Koslovskaja
A. Ivanov
alle: IMBP (Institut für Biomedizinische Probleme), Moskau